🔵 Fake Gaza Accounts
Digitale Front im Gazakrieg: Wie X mit einem kleinen Feature ein großes Fake-System enttarnt
Der Krieg um Gaza findet nicht nur in Tunneln, Kommandostellen und an der Grenze zu Israel statt, sondern mindestens genauso aggressiv in Feeds, Timelines und Kommentarspalten. Wer heute über Gaza spricht, tut das selten ohne Screenshots und Threads. Bilder von blutenden Kindern, zerstörten Häusern und verzweifelten Familien gehen millionenfach um die Welt und prägen stärker als jede Analyse die Wahrnehmung dieses Konflikts.
Genau hier setzt eine Neuerung der Plattform X (früher Twitter) an. Mit einem neuen Profilhinweis zeigt X an, aus welchem Land ein Account mutmaßlich betrieben wird. Was zunächst nach einem technischen Detail klingt, entwickelt sich zu einem Scheinwerfer auf ein jahrelang unterschätztes Problem: Fake-Gaza-Accounts, die gezielt Mitleid, Empörung und Spenden sammeln, obwohl sie gar nicht in Gaza sitzen.
Was X verändert hat: Ein unscheinbarer Hinweis mit großer Wirkung
X zeigt im Profil an, aus welchem Land ein Account tatsächlich postet. Laut einem Bericht der New York Post fiel zunächst auf, dass mehrere Accounts, die sich als Zivilisten aus Gaza ausgaben, aus völlig anderen Ländern betrieben wurden.
Beispiel 1:
Ein Account namens „Yasmine.muhamsd“ stellte sich als alleinerziehende Mutter im Gazastreifen dar. Das neue X-Feature zeigte jedoch: Die Posts kamen aus Indien.
Beispiel 2:
Ein angeblicher Vater namens „Mahmoud Salma“ präsentierte angebliche Kriegsnot – Standort laut X: Vereinigtes Königreich.
Beispiel 3:
Der Journalist Mostasem (Motasem) Dalloul wurde plötzlich mit Standort Polen angezeigt. Er veröffentlichte daraufhin ein Video vor realen Trümmern und wies die Standortangabe zurück. Medien verwiesen auf mögliche Fehler oder VPN-Effekte.
Damit wird klar: Das Feature liefert Hinweise, aber keine absolute Wahrheit.
Fake-Profile auf dem Rücken realer Opfer
Hinter vielen dieser Accounts steckt ein Muster aus:
- Emotionalisierung: Weinen, Kinder, dramatische Bilder, schnelle Aufmerksamkeit.
- Monetarisierung: Viele Profile enden in Spendenlinks, Wallet-Adressen oder Crowdfunding-Seiten.
- Propaganda: Die Accounts nutzen moralische Rollen („Gaza Mutter“, „Krankenschwester“) für politische Botschaften.
Das Perfide daran: Echtes Leid wird instrumentalisiert, um künstliche Opferbiografien zu erzeugen, Reichweite zu generieren oder Spenden abzugreifen.
Disinformation by design: Gaza als globales Testlabor
Der Gaza-Krieg gilt seit Monaten als einer der am stärksten digital umkämpften Konflikte weltweit. Fake-Videos, manipulierte Bilder und falsch verortete Clips fluten die sozialen Netzwerke.
Typische Muster sind:
- Alte Kriegsaufnahmen aus Syrien und Irak, die als Gaza-Material ausgegeben werden.
- Computerspiel-Szenen, die als echte IDF-Angriffe viral gehen.
- Staatlich gesteuerte Netzwerke, die gezielt Narrative gegen Israel oder den Westen verbreiten.
Das neue X-Feature wirkt hier wie ein Korrektiv, das zumindest ein Mindestmaß an Kontext in die Debatten bringt – wenn auch nicht perfekt.
Zwischen Aufklärung und „Doxxing“: Die Kritik an X
So wertvoll das Feature in vielen Fällen ist, birgt es Risiken:
1. Privatsphäre – Kritiker sprechen von erzwungenem „Doxxing“. Besonders gefährdet: Aktivisten, Oppositionelle, Journalisten in autoritären Staaten.
2. Fehleranfälligkeit – VPNs, technische Fehler oder verspätete Updates können echte Nutzer als Fakes erscheinen lassen. Der Fall Dalloul zeigt, wie schnell ein Fehler zur Rufschädigung führen kann.
3. Pauschalverdacht – Der Hinweis „nicht in Gaza“ reicht vielen bereits als endgültiges Urteil. Doch die Realität ist oft kompliziert, etwa durch Flucht, wechselnde Geräte, Umleitungen oder legale Kontozwischenschritte.
Das Fazit: Die Funktion schafft Indizien, aber keine absolute Gewissheit.
Politische Dimension: Informationskrieg um Israel und Gaza
Fake-Accounts tauchen nicht nur im Pro-Gaza-Lager auf. Auch pro-amerikanische oder pro-israelische Accounts wurden als Aktivitäten aus Asien oder Osteuropa enttarnt.
Im Kontext des Gazakrieges bedeutet das:
- Anti-Israelische Kampagnen können aus dem Ausland orchestriert sein.
- Pro-Israelische Netzwerke können ebenfalls künstlich verstärkt sein.
- Jede Seite nutzt digitale Einflussmethoden, bewusst oder unbewusst.
Für Israel ist das Thema besonders sensibel. Einerseits profitieren israelische Stellen davon, wenn offensichtlich falsche Gaza-Accounts entlarvt werden. Andererseits steht auch Israel selbst unter Beobachtung, was eigene Informationskampagnen betrifft.
Medien, Spenden, Öffentlichkeit: Wer muss jetzt was lernen?
Medien und NGOs müssen Social-Media-Inhalte künftig intensiver prüfen. Eine Übernahme ungeprüfter Tweets ist journalistisch nicht mehr vertretbar.
Plattformen wie X müssen technische Grundlagen transparent machen, Fehler aufklären und fälschlich betroffene Accounts rehabilitieren.
Die Öffentlichkeit braucht mehr digitale Medienkompetenz. Wer spendet oder Inhalte teilt, sollte wenigstens grundlegende Plausibilitätschecks anwenden.
Einordnung: Was dieses Feature wirklich zeigt
Der neue Standorthinweis auf X ist kein Allheilmittel, aber ein wichtiger Blick hinter die Kulissen. Er zeigt, wie intensiv der Krieg im digitalen Raum geführt wird und wie Betrüger das Leid echter Menschen missbrauchen.
Er zeigt aber auch, wie schnell technische Werkzeuge selbst zu Waffen werden können, sobald sie in polarisierten Debatten landen. Ein falscher Standort kann Karrieren zerstören.
Die Lehre daraus:
- Mehr Transparenz
- Mehr Faktenchecks
- Mehr Verantwortung im Umgang mit digitalen Werkzeugen
Der digitale Graben ist tief. Und genau deshalb braucht es eine wache, kritische und verantwortungsvolle Öffentlichkeit.

